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Billard Karambol - Dreiband - Bert's column (NED)

Erst das rechte Bein nach vorn, und dann ziehe ich das linke nach ...

Gepostet von am 2. November 2018

Erst das rechte Bein nach vorn, und dann ziehe ich das linke nach ...

Kozoom

Kolumne von Bert van Manen

Übersetzt von Andreas Volbracht

Am letzten Sonntag war es in La Baule kalt. Große Sporthallen haben selten eine intelligente Temperaturregelung, und dann reicht die Kapazität der Heizung auch nicht für ein schnelles Hochfahren der Temperatur; das Aufwärmen braucht Zeit. Bei diesem Wetterumschlag an der französischen Küste sank die Temperatur schnell und im Saal  war es  bestenfalls gerade mal 17 Grad “warm“. Resultat: die Tische liefen anders. Fast jede Linie wurde kürzer, und die Spieler mussten ihr Spiel anpassen. Klingt einfach, ist aber eine der größten Herausforderungen in unserem Sport.

Bevor ich mich damit weiter beschäftige, ein Wort über die Tische und die Bedingungen insgesamt in La Baule. Sie waren hervorragend. Wenn du am Sonntag zugeschaut hast, dann kann ich gut verstehen, dass du, wenn so ein Ball aus der Ecke  kurz herauskam, gedacht hast: "Mann, mit was für einem erbärmlich kurzen Tisch muss sich der beste Spieler der Welt hier rumschlagen? Was für ein trauriges Fabrikat oder hatte der Tischbezieher überhaupt keine Ahnung, haben die Bälle aus der nächsten Kneipe geliehen?" Klingt verständlich, ist aber falsch. Das Material war super.

In La Baule 2018 hat das Hauptfeld (letzte 32) 1,731 GD gespielt. Damit ist das der viertbeste Welt-Cup in der Geschichte. (Die Top 3: Guri 2015, 1.787, Blankenberge 2018, 1.780, Ho Chi Minh 2015, 1.776). In keinem anderen  Welt-Cup wurden die 1.7 überschritten. Das Niveau des Spiels war fantastisch, und am Samstag servierten uns ein gewisser türkischer und ein gewisser niederländischer Herr eine Show, die unvergesslich bleiben wird. Sayginer besiegte Jaspers in 6 Aufnahmen 40 : 25. Das waren 6,666 gegen 4,166 und ein gemeinsamer GD von 5,417.  

BEST MATCH EVER! 

Die Bedingungen in La Baule waren also wunderbar. Bis zu diesem Temperatursturz: dann wurde alles schwierig. Aber warum ist das so, was ist so schwer dran, hier und da um ein paar Zentimeter zu korrigieren? Diese Jungs sind Profis, die machen das seit zwanzig Jahren. Die sollten sich nicht rausreden. Wer, wenn nicht die, soll denn sonst mit sich verändernden Bedingungen am Tisch zurechtkommen, richtig?   Falsch!  

Einen Ball auf eine ganz bestimmte Weise zu treffen, ist eine unglaublich komplizierte, komplexe Aufgabe. Kein Spieler kann in Worten und Zahlen quantifizieren, was er tut. "Ich treffe den Ball 2  27% links, mit 14 mm Rechtseffet, 7 mm Zug und einer Geschwindigkeit von 19 km / h." Du musst noch nicht einmal selber Billard spielen, um zu sehen, was das für ein Unsinn ist. Wir können nicht in Zahlen abbilden, was wir mit dem Spielball machen. Ich habe noch nicht einmal Faktoren wie Gewicht, Steifigkeit des Schafts, Größe und Elastizität der Spitze erwähnt.  

Wenn es keine Zahlen sind, womit arbeiten wir dann? Da ist das erste Werkzeug: der Autopilot. Beispiel: Gehen. Wenn du über jeden Impuls beim Gehen eine bewusste Entscheidung treffen müsstest: erst das rechte Bein nach vorn, und dann ziehe ich das linke nach, würdest du verrückt werden.  Frag den Tausendfüßler, wie er geht, und er fängt an zu stolpern. Sie denken nicht darüber nach, sie wie wir überlassen es dem Autopiloten. Zehnfinger tippen? Dasselbe, da werden keine „Entscheidungen“ getroffen.  

Zweites Werkzeug: Instinkt, man kann es ebenso gut  "Gefühl" oder Erfahrung nennen. Beispiel: Überholen auf einer zweispurigen Straße. Du hängst hinter einem Lastwagen, in der Gegenrichtung kommt ein Auto auf dich zu, kannst du es schaffen? Das wäre eine verdammt komplizierte Berechnung: drei verschiedene Geschwindigkeiten, Entfernung, Beschleunigung. Aber du rechnest nicht, nicht eine Zahl kommt ins Spiel. Du schaust hin, und irgendwie weißt du, was geht. Dein Gehirn hat die Arbeit für dich erledigt. Wenn du heute noch am Leben bist, hat dein Gehirn es offenbar jedes Mal richtig gemacht.

Zurück zum Billard. Autopilot ist: wo du und wie du am Brett stehst, wenn du den Stoß machen willst. Sie triffst du keine bewusste Entscheidung, Du gehst ans Brett und irgendwie finden sich die richtigen Stellen für deine Füße. Hand auf den Tisch: Autopilot. Du bleibst außerhalb der Kickszone am Ball: Autopilot. Und dann Instinkt, Gefühl: Wie dick wird der Ball getroffen mit angedeutetem Zug, etwas Linkseffet, dem richtigen Tempo? Für die meisten Spieler sind nicht einmal das bewusste Entscheidungen. Sie überlassen das dem gleichen Teil ihres Gehirns, der beschließt, den LKW zu überholen oder hinter ihm zu bleiben. Warum? Weil dieser Bereich  deines Gehirns viel schlauer ist als du. 

Ich hab´ versprochen, dass dies alles etwas mit der Kälte in La Baule zu tun habe. Hat es auch. Wenn sich die Tischbedingungen ändern, geraten Autopilot und Instinkte durcheinander. So, wie es laufen sollte, läuft ´s nicht mehr; wir werden unsicher. Beispiel: Ich vertausche die Schalter für den Blinker und den Scheibenwischer in deinem Auto. Ich garantiere dir, du betätigst den falschen nicht ein, nicht zwei,  sondern 137 Mal. Der Autopilot ist defekt. Ein anderes Beispiel: Du fährst mit der Brille deiner Oma auf der Nase. Du wirst keinen Lastwagen überholen, weil du deiner Einschätzung nicht mehr vertraust, du bist dir nicht mehr sicher. 

Einem extrem langer wie ein extrem kurzer Tisch sind schwierig genug. Aber wenn sich der Tisch während der Partie ändert, wird es vertrackt. Gestern hast du ihm vertrauen können, jetzt lügt er dich an. Gestern konntest du vorher sagen, was rauskommt, heute stehst du da und wartest und hoffst. Gestern hast du instinktiv gespielt und fast jedes Mal richtig gelegen.  Jetzt sind deine wichtigsten Werkzeuge kaputt, und du musst über alles ENTSCHEIDEN. Erst das rechte Bein nach vorn, und dann ziehe ich ...   

Wenn du im Dreiband ernsthaft etwas leisten willst, dann denk´ dran: Unbewusste Entscheidungen sind fast immer besser als die bewussten, und sie sind präziser.

Für mich war es keine Überraschung, wie gut Martin Horn mit den schwierigen Bedingungen umgehen konnte. Er hat schon lange begriffen, dass du dich nie mit einem Tisch streiten solltest. Semih´s Spiel war am stärksten von der Veränderung beeinträchtigt, gerade weil es unter den Bedingungen am Samstag so perfekt war. Was für ein Comeback der Türke geschafft hat! Zweimal Bronze bei Weltmeisterschaften, Silber bei einem Welt-Cup und jetzt Weltrekord. Weißt du was? Ich gönne ihm noch mehr: mindestens einen weiteren ganz großen Sieg im Herbst seiner Karriere. 


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